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Unsere Unendlichkeit nach innen und Kraft nach außen

 

Gestern war ein Tiefpunkt meines Erasmus-Aufenthaltes. Das ist zwar nichts besonderes mehr, aber es ist jedes Mal anders, und ich möchte ein bisschen was dazu sagen.

 

Es war Montag, der Sonntag zuvor war schön gewesen, mit Kindergeburtstags-Kuchen nach der Kirche, die Woche hatte nicht mal so richtig angefangen, noch dazu war ein Staatsfeiertag und somit keine Uni, ich hatte mir morgens in einem Bäcker was Gutes gegönnt... Und trotz all dem war es ein trister Tag. 

Dann hab ich mich mit einer Freundin im Waschsalon getroffen, um unsere Wäsche zu erledigen (In Belgien haben die meisten Studentenheime keine eigenen Waschmaschinen... Wir haben einen Salon entdeckt, in dem man sich gemütlich bei Essen und Trinken und Uni-Sachen hinsetzen kann während dem Warten- wenn ihr mal Derartiges sucht, hier der Link zur Website: www.wasbar.be ). Ihr ging es auch nicht sehr gut. Wir stellten fest, dass sich nichts groß an unseren äußeren Umständen geändert hatte. Es waren winzige Dinge, die uns den Tag dunkel machten. 

Wir versuchten, uns Mut zuzusprechen und uns wieder das große Gesamtbild vor Augen zu führen: Wir wissen ja, dass von außen betrachtet alles nicht so schlimm ist. Unsere kleine Welt, eine von Gazillionen in der Weltgeschichte, war doch eigentlich wunderschön und heil. Ich denke deswegen aber nicht, dass wir nicht klagen dürfen; für uns selbst können Details sehr wohl einen großen Unterschied machen! Aber wenn wir feststellen, dass es "zu allem zwei Seiten gibt", kann uns das helfen, die Zuversicht zu bewahren, wenn uns das Drama unseres Lebens überrollt. 

Auf dem Heimweg vom Waschsalon wurde ich auf dem Fahrrad zu 100 % mit mir selbst konfrontiert (das Fahrrad wurde mir irgendwie zum Sofa beim Psychiater!), und ich wusste, dass ich die Wahl hatte: Die Tränen standen mir schon in den Augen, mein ganzes Inneres war wie eine durchnässte Fahne und ich glaubte, dass es doch gut tun würde, mal wieder zu weinen. Dann aber wachte eine andere Seite auf: Ich hatte doch keinen Grund... Ich musste mein Selbstmitleid nicht mit Tränen nähren. Ich konnte mich gegen den Trübsinn entscheiden, wenn ich nur den Willen benützte, der ja dalag und auf mich wartete.

Ich bemerkte, dass genau jetzt, auf dem Fahrrad, heute, mit der Wäschetasche am Lenker baumelnd, die eisigen Regentropfen auf meinen Händen, eine weitere Gelegenheit war, zu lernen, mit dem Leben richtig umzugehen. In ähnlichen Situationen zuvor hatte ich schon immer genau gefühlt, dass ich mich nicht emotional zusammenbrechen lassen musste. Da war ein Wille in mir, der sich für eine andere Sichtweise aufs Leben entscheiden kann. Ich war meinen Gefühlen nicht ausgeliefert. Auch wenn ich gerne schwach sein wollte, heulen, Schokolade essen... Das würde mir nicht helfen. Das würde mich im Gegenteil in  meinem Leben aufhalten. Würde mich vor meinen Aufgaben zurückhalten, vor den Entscheidungen, die ich so oder so treffen musste, egal, ob glücklich oder traurig. Es würde mir einen weiteren Tag voller Trauer und ein bisschen Selbstmitleid bescheren, während das Leben doch grundsätzlich so gut war... 

 

Heute Nacht habe ich gut geschlafen. Das erste Mal seit zwei Wochen. Und der Morgenhimmel war blau. Und der Kaffee schmeckt unfassbar gut, viel besser als die letzten Tage, als er mir zu staubig und schwach war. Dabei ist er derselbe wie gestern, und auch der Himmel ist derselbe, sogar das Wetter ist gleich. Es ist nur mein Gemüt, das die Realität anders wahrnimmt. Es ist "gut drauf". 

Ich will uns dazu ermutigen, die schweren Tage als Gelegenheiten wahrzunehmen, in denen wir wachsen können, in denen wir unsere Willenskraft und unsere Gemütsstabilität stärken können! (Wie abgedroschen das alles klingt...) Es ist wie ein Workout; wir müssen Kraft und Willen aufbringen. Wir können uns entscheiden, noch eine Liegestütze zu machen- allerdings, im Unterschied zu körperlichen Workouts, ohne die Gefahr, nicht wieder hochzukommen, denn unsere innere Kraft beläuft sich aufs UNENDLICHE, anders als unsere Muskeln. Wir Menschen können so viel mehr, als wir glauben. Unsere innere Muskulatur ist endlos. Wo sollte sie schon aufhören? Die Kraft ist schon da, sie wartet drauf, beansprucht zu werden; es ist unser Wille, und wir können ihn trainieren. Und das Training ist niemals erfolglos, unsere Kraft nie erschöpft. Wenn wir uns dazu bringen, es zu wollen. Wenn wir mit unserem Willen unsere innere Schwäche gegen die genauso vorhandene Kraft austauschen, auch wenn sie gerade schwach scheint, kann sich für uns alles umkehren. Ich glaub, wenn Menschen Selbstmord begehen, nehmen sie ihre Kraft und ihren Willen nicht mehr zur Kenntnis. Ihre Kraft ist "ausgeschöpft", in dem Sinn, dass sie ihren Willen zur Kraft ignorieren.  Sie haben ihren Willen immer mehr unter den Ereignissen des Lebens versinken lassen. Ein einziger Griff in die Tiefe würde genügen, um ihn wieder hoch zu holen. Aber manchmal wollen wir es einfach nicht, und sagen (weil wir das glauben wollen), dass wir es nicht können. Und das ist wohl Verzweiflung. 

Ich schreib das alles, und es ist eines von diesen Dingen, über  die man schon lange Bescheid wusste, die man aber nicht begriffen hat. 

Wir sollten den nächsten Stunden des Griesgrams immer gespannt und mutig entgegengehen. "Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt!" Sind sie doch die Möglichkeit, immer bessere Lebenskünstler zu werden, die die Striche, die aus dem Bild gehen, und die Stöße von anderen, die die Linien verwackeln, benützen, um das Bild noch schöner zu machen! <3