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Die Frau, die mich Unbeschwertheit lehrte

Es war Sonntag. Heute würde ich zum ersten Mal in die Kirche in meiner neuen, kurzzeitigen Heimat Kanada gehen. Es war aufregend. Wie der Priester wohl predigte? Wie die Gemeinde so sein würde? 

Meine Gastfamilie füllte eine ganze Reihe aus, und ich setzte mich in die Bank hinter ihnen.

Es schien viele junge Familien zu geben, und auch ein paar Leute in meinem Alter konnte ich entdecken. 

Beim Einzug fiel mir die Frau zum ersten Mal auf. Beim Stehen war sie ein bisschen größer als ihr Mann drei Plätze weiter. Sie trug einen mutig stilvollen schwarzen Filzhut, einen grauen Faltenrock und einen dunkelgrünen over-sized Pullover, auf den eine lange Kette herabfiel- bis auf ihren dicken Babybauch. Auf ihrem Arm trug sie einen kleinen Jungen, der mit der Kette spielte. Sie wiegte ihn leicht hin und her im Takt des ersten Liedes, die Lippen auf seine Stirn gelegt. Zwischen ihr und ihrem Mann standen drei weitere kleine Kinder. Wenn eines der Kinder während der Messe Unfug trieb, reichte ein Heben ihres Kinns oder ein energisches "Schhhh!", das zwar laut war und bis in die vorderste Reihe dringen musste, nach dem aber Ruhe herrschte. Manchmal drückte sie ein unartiges Kind auch gegen die Kniebank und durchdrang sie mit bohrendem Blick. 

Es war aber nicht unbedingt, was sie tat, sondern einfach, wie sie war, wie sie stand und saß, was Eindruck auf mich machte. Einerseits schüchterte mich ihr Auftreten ein, andererseits bewunderte ich es einfach nur. Nach der Messe saß sie auf der Couch und redete mit klarer Stimme mit den Leuten um sie herum. Sie strahlte die ganze Zeit eine Würde und enorme Kraft aus, ohne irgendetwas besonderes zu tun. 

An diesem Tag habe ich ein stückweit herausgefunden, wie, wer ich einmal sein möchte. 

Ich war mehr als glücklich- wenn zunächst auch etwas eingeschüchtert- als mich die Frau zu sich und ihrer Familie einlud. Amy war ihr Name, fünf Kinder, ein Mann, eine Hühnerfarm. Sie machte Home-schooling, kochte zwei mal täglich, trank zwei mal täglich Kaffee, hatte ein mal täglich einen Snack und liebte Shopping- vor allem in Second-Hand-Läden. 

Es war, als würde ich jemanden kennen lernen, den ich aus einem Film kannte, so genau hatte sie sich mir allein durchs Anschauen eingeprägt. Sie war eine ganz normale, selbstsichere Frau. Sie war taff, schien unnahbar. Beim Home-schooling wurde sie oft sehr laut und die Kinder wieder still. Aber sie hatte einen weichen Kern, wie ich bald feststellte. Früher hatte sie Drogen genommen und (zu) viel getrunken. Genauso wie ihr Mann. Nach der Bekehrung zum Katholizismus hatten sie ihren Lebensstil grundlegend geändert. Die beiden waren fest im Glauben verwurzelt, wenn sie auch noch nicht alle Antworten auf ihre Fragen hatten. 

Amy. Sie lachte viel, war laut, redete weiter, auch wenn sie mal überhört wurde. Ich weiß, ich brauche nicht so zu werden wie sie, um die Frau zu sein, die ich zu sein bestimmt bin, und will es auch nicht- nicht nach außen hin. Innerlich aber, die Einstellung, die Lebenshaltung, die Unbeschwertheit, die wollte ich ein stückweit von ihr abkupfern und auf mich zupassen. Wenn man innerlich gefestigt ist, muss sich das auch nach außen hin zeigen.

Eines von Amys Lieblingswörtern war "whatever". Wenn etwas nicht klappte, sei es auch etwas wichtiges, sagte sie "whatever", als würde sie sich so selbst trösten wollen. Genau das fehlt mir in meinem Leben. Diese Sorglosigkeit, diese Gleichgültigkeit gegenüber den Missgeschicken im Leben, an denen man nichts mehr ändern konnte. Sie nahm die kleinen Sorgen im Alltag voll und ganz an, aber auf die leichte Schulter. 

Ich denke schon, dass ihre Sorglosigkeit auch davon kam, dass sie finanziell abgesichert und hübsch war, eine glückliche Ehe führte und fünf gesunde Kinder hatte. Ich bin mir aber sicher, dass sie ihre Unbeschwertheit auch bewahren können wird, wenn ihr all das genommen würde. Es ist etwas, das man sich aneignen kann, das man lernen muss, und das einem irgendwann niemand mehr- nur man sich selbst- nehmen kann.